Sonntag, 11. September 2005

Bukowski in Berlin-Neukölln

„Gerade habe ich Bukowski getroffen. Hier im Reuterkiez, gleich bei mir um die Ecke, in einem Copy-Shop. Er arbeitet da als Aushilfskraft.“
Meine prenzlauer-bergische Freundin erwiderte: „Du redest großen Mist“, und beendete unser Telefonat mit den Worten: „Ruf mich bitte erst wieder an, wenn Du nüchtern bist.“
Sie hatte recht. Nein, ich war nicht betrunken, aber der nette Mann vom Copy-Shop hieß nicht wirklich Bukowski und sein Vorname war auch nicht Charles. Nach reiflicher Überlegung befand ich das für gut so. Wäre da nämlich tatsächlich der legendäre amerikanische Autor vor mir gestanden, hätte ich a) ihn vermutlich gar nicht erkannt und b) auf Grund unzureichender Englischkenntnisse nur schwer mit ihm kommunizieren können – von der Tatsache, dass er c) nicht mehr unter den Lebenden weilt, mal ganz abgesehen. Mit dem netten Mann vom Copy-Shop dagegen konnte ich mich frei und unbefangen unterhalten. Dabei erzählte er mir, dass er eine Autobiographie von seinem bewegten Leben geschrieben habe und die nun auch veröffentlichen wolle.
Sooo weit hergeholt war meine kleine Übertreibung am Telefon also gar nicht. Es war einfach nur ein Weiterer von vielen verzweifelten Versuchen, meine Freunde davon zu überzeugen, dass Neukölln sehr wohl wohnens- sowie ausgehenswert war. In diesem Fall war ich möglicherweise ein klein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Aber was sollte ich denn tun? Ich musste ja langsam mal schwerere Geschütze auffahren. Meine bisherigen wahrheitsnahen Schilderungen von sowohl herzlichen als auch skurrilen Begegnungen in der bunten Kneipen- und Geschäftelandschaft in meinem neuen Kiez konnten mit der Medienverschwörung gegen Neukölln nicht konkurrieren.
Fast täglich höre ich Dinge wie: „Gestern kam im Fernsehen wieder ein Bericht über Neukölln. Mord und Totschlag. Ist Dir eigentlich klar, wo Du wohnst?“, „In der Zeitung habe ich gelesen, in Neukölln wurde ein Hund erschossen – oder wurde er nur angeschossen? Egal. Pass bloß auf und schließe Deine Tür immer gut ab“, und: „Wenn was passiert, dann fast immer in Neukölln.“ Sogar bis nach Süddeutschland sind die Ressentiments vorgedrungen. Meine kleine Nichte aus Karlsruhe: „Du wohnscht doch jetzt in Neukölln, gell? Von do hört ma jo schlimme Sache.“ Das Beste kam von einem Freund aus Mitte: „Wie soll ich denn von Neukölln nachts nach Hause kommen?“ Doch auch meine Antwort: „Mit der U-Bahn, S-Bahn oder mit dem Nachtbus“, überzeugte ihn nicht, sich von mir bekochen zu lassen. Seitdem ich vor einem knappen Jahr vom In-Bezirk Friedrichshain wieder zurück nach Neukölln – freiwillig und in vollem Bewusstsein – zog, sind die Besuche, die man mir abstattet, rar geworden. Um meine sozialen Kontakte zu pflegen, bleibt mir nichts anderes übrig als ständig nach Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain zu fahren. Wenn meine Freunde sich überhaupt auf einen Kompromiss einlassen, kommen sie höchstens mal – „na ja, wenn’s unbedingt sein muss“ – nach Kreuzberg. Dafür muss ich aber zumindest einen grippalen Infekt, besser einen Beinbruch, vortäuschen.
Wer nicht will, der hat schon, denke ich mir. Sollen sie doch bleiben, wo sich die Szene selbst auf die Füße tritt. Ich werde mich jedenfalls weiterhin an den kleinen Kiezläden mit ihren Charles und Charlettes erfreuen.
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